Gesundheitliche Härte bei Eigenbedarf
0 CommentsNeue Weichenstellung im Mietrecht: BGH zu inhaltlicher Substantiierung gesundheitlicher Härte bei Eigenbedarfskündigung (BGH, Urt. v. 16.04.2025 – VIII ZR 270/22)
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit einer aktuellen Entscheidung vom 16.04.2025 (Az. VIII ZR 270/22) erneut die Anforderungen an die Darlegung gesundheitlicher Härtegründe im Rahmen einer Eigenbedarfskündigung konkretisiert. Die Leitsätze wie auch die Entscheidungsgründe geben Anlass, die bisherige Praxis kritisch zu überdenken und bewirken sowohl für Vermieter als auch für Mieter relevante Verschiebungen – mit weitreichenden Folgen für die mietrechtliche Beratung.
1. Der Sachverhalt
Dem Verfahren lag die Kündigung eines langjährigen Mietverhältnisses in Berlin zugrunde. Der Vermieter hatte den Mietvertrag mit Schreiben vom 30.04.2020 wegen Eigenbedarfs zum 31.01.2021 gekündigt. Der Mieter widersprach – gestützt auf gesundheitliche Härtegründe (§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB) – und legte eine psychotherapeutische Bescheinigung seines Behandlers vor. In dieser wurde ausgeführt, er leide an einer akuten Depression mit Suizidgedanken. Ein Wohnungswechsel würde seinen Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit massiv verschlechtern. Eine fachärztliche Stellungnahme lag nicht vor.
Das Amtsgericht hatte der Räumungsklage stattgegeben, das Landgericht bestätigte dies unter Hinweis darauf, dass der Mieter seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht ausreichend substantiiert dargelegt habe; insbesondere fehle es an einem fachärztlichen Attest.
2. Die Entscheidung des BGH
Der BGH hob die Entscheidung des Landgerichts auf und verwies die Sache zurück. Das entscheidende Argument: Das Fehlen eines fachärztlichen Attests allein reicht nicht aus, den Vortrag des Mieters als unsubstantiiert abzulehnen. Auch eine ausführliche Stellungnahme eines medizinisch qualifizierten Behandlers, etwa eines approbierten Psychotherapeuten oder Heilpraktikers (Psychotherapie), kann die erforderliche Substantiierung leisten, wenn der Inhalt und die medizinische Qualifikation zu dem Beschwerdebild passen. Es kommt also maßgeblich auf den konkreten Inhalt, die Erläuterung des Beschwerdebildes und die medizinische Qualifikation an – nicht zwingend auf die Stellung eines Facharztes.
Geklärt und bestätigt wird zugleich: Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsgefahren darf das Gericht Parteivortrag nicht vorschnell als unsubstantiiert verwerfen; es ist vielmehr bei ausreichendem Vortrag regelmäßig ein Sachverständigengutachten einzuholen, um die tatsächliche Gesundheitsgefahr zu prüfen. Überhöhte Anforderungen an den Mieter – etwa aus dem Grundrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) – sind unzulässig.
3. Auswirkungen auf die Praxis
Die Entscheidung bedeutet eine Klarstellung, die insbesondere für Mieter von erheblicher Bedeutung ist: Ein Mieter, der eine Eigenbedarfskündigung aus gesundheitlichen Gründen abwehren will, ist nicht mehr gezwungen, ein fachärztliches Attest vorzulegen. Entscheidend ist der Inhalt und die Plausibilität einer fundierten, medizinischen Stellungnahme; diese muss geeignet sein, die behauptete Härte nachvollziehbar und fachlich schlüssig zu begründen.
Gleichzeitig erhalten Vermieter Rechtssicherheit: Die Anforderungen an die Darlegung werden nicht „abgesenkt“, sondern differenziert: Allgemeine, formelhafte Angaben oder pauschale Beschwerden reichen nicht. Es kommt auf den Einzelfall, die Schwere der behaupteten Beeinträchtigung und die Qualität der medizinischen Einschätzung an.
4. Handlungsempfehlungen für die Praxis
Für Vermieter:
- Prüfen Sie die vom Mieter vorgelegten Begründungen sorgfältig. Bestehen Zweifel an deren medizinischer Nachvollziehbarkeit und ausreichender inhaltlicher Darstellung, sollte die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt werden.
- Pauschale Zurückweisung des Vortrags wegen fehlender fachärztlicher Atteste ist nicht mehr möglich. Spiegeln Sie dies realistisch in Ihrer Prozessstrategie wider.
- Individuelle Würdigung ist zwingend, um darauf gestützte Prozesskostenrisiken zu vermeiden.
Für Mieter:
- Wenn gesundheitliche Härtegründe geltend gemacht werden, sollten diese umfassend, konkret und auf die eigene Person bezogen geschildert werden.
- Die Stellungnahme eines behandelnden, für das Krankheitsbild qualifizierten Therapeuten oder Arztes (auch eines Heilpraktikers mit entsprechender einschlägiger Qualifikation) ist ausreichend ‒ sofern diese Inhalt, Ausmaß und konkrete Gefahrenlage klar erläutert.
- Formulieren Sie oder Ihr Behandler den Bericht so konkret wie möglich, insbesondere zu den (gesundheitlichen/psychischen) Folgen eines Wohnungswechsels samt Prognose.
Die Entscheidung des BGH führt so zu mehr Einzelfallgerechtigkeit und eröffnet beiden Seiten zugleich neue Argumentationspfade – sowohl in der gerichtlichen Auseinandersetzung wie auch in der Beratungspraxis. Ein bewusster Umgang mit dem jeweiligen Darlegungsmaßstab und die konkrete, prüffähige Dokumentation bleibt der Schlüssel zum Erfolg.